Wenn Idioten sich als Kritiker versuchen - der Berliner Tagesspiegel über Muse

Hinweis: Der Begriff "Idiot" ist in diesem Kontext nicht pejorativ, sondern deskriptiv wie hier erörtert gemeint und zu verstehen.
Musikkritiker sind in aller Regel seltsame bis unangenehme Zeitgenossen. Zwar sind sie heute nicht mehr Denunzianten zum Nutzen eines Geheimdienstes und zum Schaden subversiv-oppositioneller Musiker, wie es der unsägliche Artemy Troitsky war, der heute als der "gute Russe" durch Deutschland tingelt und den ich hier mit einer dreisprachigen Erinnerung an seine Vergangenheit bedacht habe. Das sind die heutigen und hiesigen Musikkritiker aber nur deshalb nicht, weil sie günstigerer Umstände wegen nicht in die Versuchung geraten, denunzieren zu wollen resp. zu können.

Sie versuchen es hin und wieder trotzdem, wie ich gleich zeigen werde, und sind dabei in der Regel frei von Sachkenntnis, wenn nicht gar ziemlich doof. Das jüngste Beispiel lieferte ein gewisser Hannes Soltau, der 2016 so nützliche und die Welt nebst Menschheit ganz sicher rettende Sachen wie Friedens- und Konfliktforschung und "Kulturen der Aufklärung" - was immer das auch ist - zu Ende studiert hatte. Dieser hochspezialisierte Vollprofi textete nun eine "Kritik" zum Auftritt von Muse auf dem Tempelhof Sounds Festival mit dem Titel "Die Wut der Idles und das Pathos von Muse" zusammen, in welcher er den Auftritt der Idles gegen (nicht neben, sondern gegen) den von Muse stellte.
Text im Tagesspiegel: https://www.tagesspiegel.de/.../wut-der-idles-und-das-pathos-von-muse...

Zu den Idles später, zunächst zu Muse. Soltau beginnt so: »Pünktlich um 20.30 Uhr brennt ein riesiges Anarchiesymbol über dem Tempelhofer Feld.« Das ist so strunzdumm, dass ich Mühe habe, die Contenance zu wahren und nicht ausfallend zu werden. Nein, es war (und ist weiterhin auf der Muse-Tour) das WOTP-Monogramm - Will of the People - , gestaltet von Jesse Lee Stout, Creative and Artistic Director des Metaform Studios, der seit der Drones-Tour für Muse arbeitet, und vom portuguiesischen Digital Artist Tiago Marinho. Es hat nicht ansatzweise Ähnlichkeit mit dem Anarchiesymbol, wie auf dem Bild leicht zu erkennen ist.

Weiter geht es bei Soltau so: »Es dürfte keine besseren Kulisse für den Überwältigungssound von Muse geben als die über einen Kilometer lange Halle.« Gemeint ist die Halle des Flughafengebäudes, vor dem die Bühne stand - Baubeginn in der jetzigen Form 1934, festiggestellt 1941 - also eine Nazi-Kulisse für den "Überwältigungssound" von Muse. So geht Denunziation in Zeiten von Political Correctness und Diversity.

Weiter im Text: »In beinahe fragwürdiger Präzession zelebriert das Trio Songs wie "Supermassive Black Hole", "Plug In Baby" oder "Uprising". Vibrato, Arpeggio und Tonsprünge - Bellamy spielt den vollen Umfang seiner beinahe vier Oktaven umfassenden Stimme aus.«
Was erlauben Bellamy? Spielen Stimme aus! In volle Umfang! Wirklich bemerkenswert ist allerdings der Begriff "Präzession" - der steht wirklich so im Text! Die Präzession ist die Richtungsänderung der Rotationsachse eines rotierenden Körpers, die Älteren der geneigten Leserschaft, die noch nicht schon im Kinderwagen auf irgendeinem Elektroscheiß herumdaddelten, kennen das Phänomen vom Kreiselspiel. Ich vermute, der gelehrte Herr Magister Soltau meinte PräzISion statt PräzESSion - und für ihre präzise Spielweise ist Muse in der Tat bekannt. Einem wie Soltau mit seiner hingeschluderten Blindlaberei muss Präzision natürlich fragwürdig erscheinen, wenn nicht gar ein Gräuel sein.

Die Erwähnung des Arpeggio im Kontext von Bellamys Stimme ist natürlich Blödsinn, weil es nichts mit Gesang zu tun hat, wohl aber mit dem Spiel von Saiteninstrumenten, ursprünglich der Harfe, als Technik des Zupfens der Saiten, um einzelne Töne eines Akkords nicht gleichzeitig, sondern in sehr kurzen Abständen nacheinander erklingen zu lassen - das nennt man einen arpeggierten Akkord. Bellamy ist ein Meister dieser Technik auf der elektrischen Gitarre. Womit das Arpeggio eher hierher gehört hätte:
»Zwischen brachialem Geschredder und filigranen Tapping-Soli auf der Gitarre, wechselt er zeitweise zu kleinen Pianoeinlagen oder spielt mit seinen Fingern auf einem Instrument, das in seinem leuchtenden Anzug verbaut ist.«
Das Instrument, das der Fachmann Synthesizer nennt, ist keineswegs im Anzug verbaut, der nur aus einer Jacke besteht, sondern es ist ein Handschuh - man sieht im Arte-Video bei Minute 58:10, wie Bellamy ihn abnimmt. "Geschredder" - geschenkt. Wieso aber wird einem Schreiber ein so einseitig-polemischer und ganz offensichtlich von persönlichen Ressentiments geprägter Text von der Redaktion als "Kritik" abgenommen?

Muse am 11.06.2022 auf dem Tempelhof Sounds Festival in Berlin

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Richtig blöd wird es schließlich, als Soltau versucht, Bellamys politische Botschaft irgendwie oder irgendwo zu verorten, was dann im Ergebnis so klingt: »Im Gegensatz zu den Idles nimmt man dem millionenschweren Rockstar sein Klassenbewusstsein allerdings überhaupt nicht ab.« Bellamy ist nicht erst seit Drones ein politischer Musiker, was in der Liga des großen Musik-Business, in der Muse spielt, sehr selten ist. Soltau hat aber nicht im Ansatz verstanden, was Bellamy mit seinen Aussagen und seinen Botschaften in den Liedern (und Interviews) zum Ausdruck bringen will. Soltaus Vermutung eines Klassenbewusstseins bei Bellamy entspringt einem falsch verstandenen, marxistischen Klassenbegriff und ist somit das, was man vulgärmarxistisch nennt. Bellamy gehört im eigentlichen, marxistischen Sinn keiner Klasse an, sondern einer Schicht, und zwar nach seiner Herkunft und Ausbildung und seinem Status zufolge der bürgerlich-künstlerischen Intelligenz. Schichten können zwar mit Klassen sympathisieren und kooperieren, gehören ihnen aber dennoch nicht an. Aus diesem Grund hat Bellamy - der marxistischen Begrifflichkeit folgend, auf die Soltau zurückgreift - kein Klassenbewusstsein - und er hat nie behauptet, etwas in der Art zu haben oder für sich zu beanspruchen. Bellamys politische Haltung ist seiner eigenen Darstellung zufolge als links-liberal mit libertären Akzenten zu verorten, ähnlich der Noam Chomskys, auf den er sich oft beruft resp. ihn zitiert. Die gesellschaftlich gestaltende Kraft liegt für Bellamy beim Individuum und seinem Willen (nicht Befinden, nicht Begehren) zum schöpferischen Gestalten seines Lebens in der Welt. Klassen hingegen wollen mit der - wie auch immer gearteten - Umgestaltung von Politik und Gesellschaft nur die Vertreter resp. Protagonisten ihrer Klasse an die Macht bringen resp. dort sehen in der Hoffnung, dass ihre Interessen vertreten werden und selbst davon zu profitieren. Bellamy aber stellt das System als solches in Frage und wenn Soltau sich das Video zum titelgebenden Song "Will of the People" angesehen hätte, hätte er vielleicht festgestellt, dass die Aussage des Liedes ambig (nicht ambivalent) ist, wenn nach dem Sturz der monumentalen Führerfiguren durch die revoltierenden People diese ihre Masken abnehmen - und dieselben Figuren erscheinen. Ich habe das in Videoscreenshots im unten angehängten Bild veranschaulicht. Message: Der Sturz der Führerfiguren, "der da oben", ändert nichts am System. In Klassen-Kategorien denkende Menschen glauben aber genau das. Deshalb gibt es bei Bellamy kein Klassenbewusstsein, dass man ihm abnehmen sollte, müsste oder könnte. Das hat der (auch) studierte Politikwissenschaftler Soltau aber nicht verstanden.

Soltau ist offensichtlich eher ein Freund der ebenso plakativen wie infantilen musikalischen Entäußerungen, auch wenn sie laienhaft und ohne "Präzession" zum Vortrag gebracht werden. Deshalb mag er die Idles so sehr. Der Name der Band ist Programm - und zwar eines aus den 1980er Jahren und damit - freundlich formuliert - etwas aus der Zeit gefallen. Das Fazit vorweg: Die Band ist eine schlechte Imitation dessen, was Henry Rollins mit Black Flag begann und mit der Rollins Band perfektionierte. Hier ein Auftritt der Rollins Band mit der Tour, die ich seinerzeit in der Berliner Eissporthalle sehen konnte:
https://www.youtube.com/watch?v=LbjyOUS0BhI

In einem Punkt hat Soltau ausnahmsweise recht - der Idles-Sänger Joe Talbot »bellt und grunzt«, Das ist aber weder ein Zeichen besonders starker Ausdruckskraft, wie Soltau erkannt zu haben glaubt, noch anderweitig ein Qualitätskriterium, sondern schlicht der Tatsache geschuldet, dass Talbot nicht singen kann. Was Henry Rollins mit demselben Gesangsstil an Kraft und Präsenz auf die Bühne bringt, simuliert Talbot eben mit Gebell und Gegrunze - und bleibt dabei merkwürdig farblos und blass. Soltau macht in den Texten ein »Kompendium intelligenter Slogans [...] über soziale Ungleichheit, Sexismus und Rechtspopulismus« aus - und ich bezweifle, dass Soltau tatsächlich bewusst ist, was er da schreibt.

Erstens braucht die Welt wirklich und definitv nichts weniger als noch mehr Slogans, davon haben wir genug. Freundlich formuliert sind Slogans einprägsame Wahl- oder Leitsprüche, weniger freundlich formuliert, nämlich der Praxis entsprechend, sind Slogans manipulative Schlagworte resp. -sätze. Das sollte nicht erst seit Edward Bernays' "Propaganda" bekannt sein, sondern spätestens seit Deus lo vult.
Zweitens - aus dem ersten Punkt resultierend - gibt es keine "intelligenten" Slogans, sie können clever oder smart sein, aber niemals intelligent, denn an die Intelligenz appellieren Slogans bewusst nicht, sondern im besten Fall an Emotionen, im schlechteren Fall an Instinkte.
Drittens - wenn man sich, was eine echte Zumutung ist, die Texte der Idles ansieht, zeichnet sich dieses ebenso plakative wie infantile und idiotische Muster "wir hier - die da" ab, das immer - und immer wieder - beim Versuch, den Gegensatz linkerseits aufzulösen, in der Konsequenz Dekrete über den Roten Terror, Gulags und Killing Fields zeitigte. Ein Experte in Sachen Friedens- und Konfliktforschung und "Kulturen der Aufklärung" sollte das alles eigentlich wissen.
Viertens haben andere, zum Beispiel der oben erwähnte Henry Rollins, Themen wie soziale Ungleichheit, Sexismus und Rechtspopulismus längst und vor allem tatsächlich intelligent und umfassend erörtert - Rollins zudem als Spoken Word Artist vorgetragen und in zahlreichen Büchern. Es braucht Talbots Gebell und Gegrunze schlicht nicht. Das heißt nicht, dass es überflüssig wäre, diese Themen auch heute zu erörtern und in künstlerischer Form darzustellen. Aber bei den Idles ist das bloße Attitüde - ergänzt um plakative Diversity in Gestalt von Gitarrengurten in Regenbogenfarben und eines ekstatisch im Frauenkleid über die Bühne hopsenden Gitarristen. Diese Mischung aus platter "Links"-Dogmatik und "Wokeness" verkauft sich heute offensichtlich ganz gut, wenn man an Kreativität im Allgemeinen und an musikalischer Virtuosität im Besonderen nichts zu bieten hat.
Der Idles-Auftritt auf dem Tempelhof Sounds Festival ist bei YouTube derzeit nicht mehr verfügbar, deshalb hier ein vergleichbarer Auftritt aus derselben Zeit, nämlich auf dem Primavera Sound 2022 in Barcelona (2. bis 12. Juni 2022) am 4. Juni auf einer Nebenbühne: https://www.youtube.com/watch?v=Go5vkdgBRqg.

Soltau findet, die Idles zwängen mit ihren Songs »zum Blick in den zerbrochenen Spiegel des modernen Großbritanniens«. Mag sein, dass die Band mit ihrer Darbietung die Befindlichkeiten dieser seltsamen, kleine Insel reflektiert. Muse allerdings zwingt - sofern man die Botschaft versteht - zum selbstkritischen und das eigene Tun reflektierend hinterfragenden Blick auf eine zunehmend dysfunktionale Welt. Die Idles propagieren eine rudimentäre und dabei ziemlich infantile Ideologie - Muse hat eine Botschaft an jeden Menschen als einzigartiges Individuum, wenn er sie denn hören will.