Kriegsgefangenschaft in der Sowjetunion - Bericht aus den Memioren von Dr. Rudi Kupfer

Der Anlass für diesen Text ist ein Artikel in der Onlineausgabe des Magazins "Russia Beyond the Headlines". Eigentlich ist es weniger der nicht besonders erbiebige, weil zu oberflächliche, aber mit interessanten Bildern versehene Text von "Russia Beyond" selbst, sondern es sind vielmehr die teilweise revisionistischen bis grotesk dämlichen Kommentare deutscher Leser zum Artikel, die mich bewogen, den nachfolgenden Text zu verfassen, mit dem ich einige sachdienliche Ergänzungen zum Thema Kriegsgefangenschaft in der Sowjetunion aus den Memoiren meines Vaters liefern kann.

Anmerkung: Die Zitate aus dem Buch sind in spitze Anführungszeichen gestellt »« und die Zitate in den Zitaten in gewöhnliche doppelte Anführungszeichen.

Webseite zu den Lebenserinnerungen meines Vaters: https://www.deutsche-vergangenheit.de/
Eine umfangreiche Leseprobe: https://www.deutsche-vergangenheit.de/.../leseprobe-junge-vom-knack.pdf

Soldat und Kriegsgefangener Rudi Kupfer

Bildbeschreibung - die Originale habe ich Nachlass meines Vaters gefunden:
Oben von links nach rechts: Mein Vater als 17-jähriger in Weißenfels, die Rekruten waren gehalten, ein solches Foto für die Eltern oder Ehefrauen anfertigen zu lassen, es ist 4,5 mal 6 Zentimeter groß. Daneben die Rückseite des Fotos. Rechts: Mein Vater im Winter 1947 im Lager Rjasan, er schreibt dazu: »Als ich wieder einmal in der Stadt war, kam ich an einem kleinen Fotogeschäft vorbei, ging hinein und ließ mich fotografieren. Als ich die nächste Karte nach Hause schreiben durfte, nähte ich eins der Bilder an die Karte.« Unten: Die Entlassungsscheine meines Vaters aus der sowjetischen Kriegsgefangenschaft vom 22. April 1949 in russischer und deutscher Version.

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1.) Ausgangslage, wie mein Vater in sowjetische Kriegsgefangenschaft geriet
Mein Vater, damals 17 Jahre alt, wurde am 24. August 1944 direkt aus dem Reichsarbeitsdienst in den Wehrdienst eingezogen und in Weißenfels und Freiberg im Grenadier-Ersatz-Bataillon 11 als Schütze 1 am MG 42 ausgebildet. Am 26. Januar 1945 stieß im Rahmen der am 12. Januar 1945 begonnenen Weichsel-Oder-Operation der Roten Armee die 4. Gardepanzerarmee unter Armeegeneral Dmitrij Danilowitsch Leljuschenko nördlich von Breslau bei Steinau über die Oder und südlich von Breslau bildete die 5. Gardestoßarmee unter Generaloberst Nikolai Erastowitsch Bersarin, dem späteren Stadtkommandanten von Berlin, gleichzeitig einen Brückenkopf westlich der Oder bei Ohlau (Oława), also schon tief im Reichsgebiet. Am 13. Januar wurde das Bataillon in Alarmbereitschaft versetzt und in der Nacht vom 26. zum 27. Januar 1945 bezog das Regiment meines Vaters an diesem Frontabschnitt einige Kilometer südlich von Ohlau Stellung. Es waren planlose, chaotische Rückzugsgefechte der Wehrmacht, die Einheit meine Vaters wurde aufgerieben und er selbst verwundet. Nach einem Lazarettaufenthalt in Ostrau (Ostrava) und Brünn (Brno) wurde er am 2. Mai 1945 einer aus Restbeständen anderer Einheiten zusammengewürfelten Einheit zugeordnet, die in Schlan (Slany @Google Maps, 40 Kilometer nordwestlich von Prag) die Stellung gegen die im Rahmen der Prager Operation anrückende Rote Armee halten sollte.

Da die Rote Armee aber von Südosten und von Norden her auf Prag vorrückte (Karte der Operationen in der Region), kamen ihre Truppen in dieser Operation zunächst in Schlan gar nicht vorbei, stattdessen wurde das Regiment meines Vaters in Kämpfe mit der Wlassow-Armee verwickelt, die am 6. Mai 1945 die Seite gewechselt hatte in der Hoffnung, in westalliierte Kriegsgefangenschaft zu kommen und so der Repatriierung in die Sowjetunion zu entgehen, was aber seit Jalta beschlossene Sache war. [Die Wlassow-Armee (Russische Befreiungsarmee ROA) war ein russischer Freiwilligenverband mit einer Stärke von bis zu 125.000 Mann unter General Andrei Wlassow, der vom 10. November 1944 bis zum 6. Mai 1945 auf deutscher Seite angegliedert an Wehrmachts- und Waffen-SS-Verbände kämpfte.] Am späten Abend des 10. Mai endete mit einem letzten, kurzen Gefecht gegen ROA-Panzer auch für meinen Vater der Krieg und in der Morgendämmerung des 11. Mai brach der Rest seiner Einheit auf, um in Richtung Heimat zu marschieren. Nach kurzem Marsch begegneten sie Truppen der Roten Armee, legten ihre restlichen Waffen ab und begaben sich in Gefangenschaft - immerhin war zwei Tage vorher am 9. Mai um 0:16 Uhr in Berlin-Karlshorst die bedingungslose Kapitulation der Wehrmacht und aller Teilstreitkräfte unterzeichnet worden. (Update: Am 9. Mai 2020 erschien im Magazin "Russia Beyond the Headlines" ein interessanter Artikel, der hier gut passt und die Darstellung bestätigt, er ist hier abrufbar: Wo kämpften die Nazis nach der Kapitulation noch weiter.)

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2.) Die erste direkte Begegnung mit einem sowjetischen Soldaten
Am 27.01.1945 wurde das Regiment meines Vaters an diesen Frontabschnitt einige Kilometer südlich von Ohlau verlegt. Dabei ergab es sich, dass die Kompanie meines Vaters am Südende eines Dorfes vor Ohlau lag, während rund 500 Meter nördlich eine sowjetische Einheit am Nordende desselben Dorfes Stellung bezogen hatte. Aus dieser Lage entstand folgende Situation:

»Wir betraten ein Gehöft, die Hühner stoben mit lautem Getöse auseinander, es hatte jedoch keinen Sinn, Geflügel mitzunehmen, denn mit unseren Möglichkeiten hätten wir sie sowieso nicht zubereiten können. Außerdem wäre es uns sicher nicht gelungen, sie einzufangen, sie waren so verängstigt, dass die sofort wegflatterten, wenn man sich ihnen näherte. Wir suchten Konserven und die wurden gewöhnlich im Keller gelagert, also stiegen wir in den Keller. Er bestand aus mehreren Räumen, ich suchte gleich im ersten Raum und Rolf ging in den nächsten.
Plötzlich hörte ich Schritte, ich blickte zur Treppe - jemand kam langsam die Treppe herab. Ich sah zuerst nur die Beine mit den Stiefeln, es waren russische Stiefel, dann sah ich an der Uniformhose, dass es tatsächlich ein Russe war. Das alles spielte sich wie in der Zeitlupe ab. Ich war wie gelähmt, unfähig mich zu bewegen, ich weiß nicht, ob mein Herz überhaupt noch schlug. Jetzt sah mich der Russe, er hatte keine Maschinenpistole und kein Gewehr bei sich, ich glaube, er hatte nicht einmal eine Pistole. Als er mich sah, war er genauso erschrocken wie ich, er blieb erstarrt stehen, es waren bestimmt nur drei, vier Sekunden. Er starrte mich an, ich rührte mich nicht. Er stieg langsam rückwärts Schritt für Schritt die Stufen hoch und verschwand wie ein Geist. Ich hätte mich schnellstens in den anderen Raum in Sicherheit bringen sollen, denn eigentlich hätte jetzt kommen müssen, was wir an seiner Stelle getan hätten, nämlich ein oder zwei Handgranaten in den Keller geworfen. Aber er tat nichts.
"Hast du was gefunden?" hörte ich Rolf fragen.
"Ja, dort drüben stehen Gläser mit Fleisch." antwortete ich, noch völlig benommen.
Rolf kam aus dem anderen Keller und sagte verwundert:
"Ist was, warum hast du deine Pistole in der Hand?"
Offenbar hatte ich sie unbewusst gezogen. Ich sagte:
"Nein, es ist nichts, ich habe sie bloß vorsichtshalber aus der Tasche geholt."
Wir packten die Gläser ein, groß war unser Erfolg nicht, und machten uns auf den Weg zurück. Dieses Erlebnis werde ich nie vergessen, der Russe war sicher genauso erlöst wie ich, als alles vorbei war. Er war wahrscheinlich allein und suchte, genauso hungrig wie wir, nach Essen und mir dämmerte durch den Schleier jahrelanger Indoktrination durch die nationalsozialistische Propaganda, dass der Russe auf der Treppe ebenso ein Junge mit einem Zuhause, Eltern, Geschwistern wie ich war.«

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3.) Gefangennahme und Transport in die Sowjetunion
Mein Vater war vom 11. Mai 1945 bis zum 22. April 1949 in sowjetischer Kriegsgefangenschaft, zuerst in Rjasan 200 km südöstlich von Moskau an der Oka, danach ab April 1948 in Kolomna, 120 km südöstlich von Moskau. Man darf sich die Lager nicht als feste Standorte vorstellen, das Lager Rjasan bestand aus mehreren Lagern, so gab es ein Wald- und ein Stadtlager, die mehrmals den Standort wechselten. Kolomna wird in der offiziellen Lagerliste gar nicht geführt, vermutlich, weil es vom Lager Moskau verwaltet wurde. Zur Gefangennahme und zum Transport schreibt mein Vater:

»Wir marschierten auf der Straße durch Dörfer und Wälder, vorbei an Feldern und Wiesen und immer begleitet von den Beschimpfungen und Verwünschungen der Tschechen am Straßenrand. Einige spuckten uns an oder warfen mit Steinen nach uns. Dann griffen allerdings immer die russischen Wachposten ein. [...] Wir wurden den Waggons zugeteilt, die mit 48 Mann belegt wurden. Die großen Waggons wurden mit 90 Mann belegt, wir kletterten in den Waggon, und krachend schloss sich die Schiebetür hinter uns. Wir hörten noch, wie der Sicherungsriegel geschlossen wurde. Nun konnten wir das Innere des Wagens inspizieren, der für die nächste Zeit unser Heim sein sollte, und uns dort einrichten. Rechts und links der Schiebetüren waren an den Stirnseiten des Waggons in einer Höhe von etwa anderthalb Metern Liegeflächen in der Art eines Regals aufgebaut, so dass sich insgesamt vier Liegeflächen ergaben. [...] Die Tür auf der anderen Seite war arretiert, ließ aber einen vielleicht zwanzig Zentimeter breiten Spalt offen. Dort war ein viereckiger Kasten mit einer nach außen führenden, schräg abfallenden Rinne aus Brettern angebracht, diese Vorrichtung war das Klosett. [...] Doch zunächst wurde, als wir alle Platz gefunden hatten, die Tür wieder geöffnet und zwei Posten befahlen uns, draußen anzutreten. Wir gingen zum Ende des Zuges, dort standen drei LKW und wir mussten aus ihnen verschiedene Lebensmittel in einen Waggon bringen. Es waren Kartoffeln, Hafer, Graupen und Zucker in Säcken und Brot in Form von Brotscheiben, die nochmals gebacken waren, in Kartons - das war unsere Verpflegung auf der Fahrt ins Ungewisse. Wir sahen nun, dass an unseren Zug auch große, vierachsige, stahlverkleidete Waggons angekoppelt waren, während die Wände unserer kleinen Waggons aus Holz bestanden. In diesen großen Waggons waren etwa 90 Gefangene untergebracht, überwiegend Angehörige der Waffen-SS, wie ich später erfuhr. [...] Zweimal am Tag mussten wir unter Bewachung Essen verteilen. Unser Waggon war direkt hinter dem Küchenwaggon. Mittags gab es meist etwas Brei und abends Suppe und Brot. Wir zogen unter Bewachung von Waggon zu Waggon, einer der Posten öffnete die Tür einen Spalt, und wir gaben jeweils eine Kelle in die Kochgeschirre [...] ab und zu gab es auch Zigaretten oder Tabak. [...] Wir erreichten Brest, die Grenzstadt zwischen Polen und Belarus. Auf einem großen Güterbahnhof blieben wir zwei oder drei Tage stehen. Hier hatte ich das erste Mal seit Beginn meiner Gefangenschaft die Möglichkeit, mich einigermaßen zu waschen, zwar mit weniger Wasser als gewohnt, aber immerhin wurde ich sauber. Gleichzeitig wurden wir entlaust.«

Der von meinem Vater beschriebene Waggon war höchstwahrscheinlich ein gedeckter Güterwagen mit Gattungszeichen Gs des Gattungsbezirks Oppeln (siehe Abbildung), der ab 1937 in großer Stückzahl gebaut wurde und auf die sowjetische Breitspur umstellbar war. Ich kenne die Waggons aus eigener Reiseerfahrung, und zwar aus meiner Dienstzeit als Zeitsoldat in der Nationalen Volksarmee der DDR. Anlässlich der Manöver- und Artillerieschießübungen, die alljährlich im Sommer und im Winter stattfanden, wurden meine Artillerieeinheit 122-mm-Haubitze M-30, allerdings dieses Modell mit anderer Bereifung) im MSR 7 der 7. Panzerdivision in Marienberg per Bahn auf die Manöver- und Artillerieübungsplätze nach Jüterbog, Burg bei Magdeburg oder Züllsdorf/Annaburg verlegt. Nach der Verladung der Geschützzüge wurden meiner Batterie drei dieser Waggons zugeteilt, in den wir die Fahrt verbrachten. In einem Waggon waren die Batterieführung und der Aufklärungs- und Feuerleitzug untergebracht, im zweiten und dritten die Mannschaften der beiden Feuerzüge. In der Summe waren das in jedem der beiden Waggons drei Geschützbesatzungen mit jeweils neun Mann inklusive Geschützführer und Fahrer. Dazu wurden der Batterieoffizier, die Zugführer, Funker und die Feuerleitstelle der Feuerzüge in den beiden Waggons verteilt, so dass in jedem Waggon ungefähr 30 Soldaten untergebracht waren. Allerdings fanden die Transporte unter sogenannten Gefechtsbedingungen statt, so der Terminus für die Simulation des Ernstfalls, weswegen wir unser Marschgepäck inklusive ABC-Schutzausrüstung, Stahlhelm und Waffen ebenfalls in den Waggons verstauen mussten. Alles in allem war das nicht gemütlich, aber erträglich und so stellte sich auch die Situation in der Schilderung meines Vaters dar.
Die Transporte der sowjetischen Kriegsgefangenen und die Häftlingstransporte in die Konzentrationslager erfolgten in Waggons gleicher Bauart unter grausamsten Bedingungen, denn die Deutschen pressten - anders kann man es nicht nennen - mindesten 100, oft 120 und bei KZ-Transporten bis zu 150 Menschen in diese Waggons, was die Fahrt zu einem Martyrium machte, insbesondere angesichts der Tatsache, dass sie nicht verpflegt wurden und - wenn überhaupt - nur ein Minimum an Wasser erhielten.

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4.) Verpflegung
Diese war nach den Schilderungen meines Vater mager, aber ausreichend.

»Früh gab es eine dünne Suppe, mittags gab es wieder eine dünne Suppe, dazu zwei Esslöffel Brei, Hafer-, Kartoffel- oder Hirsebrei, er wurde als Kascha bezeichnet, abends gab es 400 Gramm Brot und einen gestrichenen Löffel Zucker. Wenn die Arbeitsnorm erfüllt wurde, waren es 600 Gramm Brot. Diese Verpflegung, also zweimal Suppe, Brei, Brot und Zucker sollte für die nächsten vier Jahre das Standardessen sein.«

Damit unterschied sie sich kaum von der Verpflegung, die der russischen Bevölkerung in den beiden ersten Nachkriegsjahren zur Verfügung stand. Die Suppen mögen etwas reichhaltiger gewesen sein und die Russen hatten die Möglichkeit, ihre Nahrung mit selbst angebautem Gemüse anzureichern. Grundsätzlich aber galt:

»Die Versorgung der Bevölkerung mit Brot und Mehl war bis 1947 immer wieder ein Problem. Es gab Zeiten, in denen es in der ganzen Stadt ein oder zwei Wochen weder Brot noch Mehl gab, auch wir bekamen dann kein Brot. Aber sobald die Bäckerei wieder arbeitete, bekamen wir alles nachgeliefert.«

Kurz - wenn das Lager kein Essen hatte, hatte das Dorf oder die Stadt auch keins. Nach der Stabilisierung der Versorgungslage konnten die Gefangenen ihre Verpflegung ab und zu durch Einkäufe aufbessern, mehr dazu in den Punkten 7 und 8. Die Regelverpflegung für sowjetische Kriegsgefangene in deutschen Lagern - wenn sie diese denn überhaupt bekamen - waren täglich 20 Gramm Hirse und 100 Gramm Brot, für Kriegsgefangene im Arbeitseinsatz bis zu 50 Gramm Hirse und 200 Gramm Brot täglich.

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5.) Kleidung
Dazu schreibt mein Vater:

»Einige Bemerkungen zur Kleidung - sie bestand aus dem, was wir mitgebracht hatten und wurde notdürftig repariert. Wenn es unbedingt erforderlich war, das heißt, wenn sie wirklich völlig unbrauchbar war, wurde sie ausgetauscht. In den späteren Jahren erhielten wir im Winter zusätzlich Wattejacken, Wattehosen, Wintermützen und Filzstiefel, allerdings nur diejenigen, die im Freien arbeiten mussten. [...] Anfang des Winters 1947 erhielten wir Winterbekleidung. Ich erhielt eine Wattehose, eine Wattejacke, Filzstiefel, eine weiße Lammfellmütze, eine Wintermütze, die von den Russen als Schapka bezeichnet wurde, und einen wunderbar weichen, hellen Lammfellmantel. Er war völlig neu. [...] Ich war regelrecht stolz auf diese Kleidung und hätte sie oft an Russen verkaufen können.«

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6.) Post
Bei meinem Vater kamen in den vier Jahren nur sehr wenige der zahlreichen Briefe seiner Mutter an, seinen Kameraden sowohl in Rjasan als auch in Kolomna ging es ebenso, auch sie erhielten selten Post, die Gefangenen hielten das mit der Zeit für normal. Ob das Absicht war, ob es an den Verlegungen in verschiedene Lager lag oder ob es einfach nur Schlamperei war, ließ sich nicht klären. Selbst schreiben durfte mein Vater insgesamt vier Mal - drei Karten kurz vor Weihnachten und einen zweiseitigen Brief (ein Blatt beidseitig beschrieben) im Sommer 1948. Zitat: »Ende Dezember 1946 [...] konnten wir unsere erste Karte nach Hause schreiben.«

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7.) Arbeit und Entlohnung
Keine der Arbeiten, die mein Vater in den vier Jahren verrichten musste, lässt sich als die oft zitierte "Sklavenarbeit" beschreiben. Es waren vielmehr alles Hilfsarbeiten wie beispielsweise Erntearbeiten im Совхоз (советское хозяйство, landwirtschaftlicher Großbetrieb), im Winter Bahnhofsarbeiten und Schneezäune an den Bahnstrecken aus Schneewehen ausgraben und hochsetzen, Hilfsarbeiten in der Schmiede und der Lackiererei eines Сельмаш (сельскохозяйственные машины, Betrieb zur Herstellung von Landwirtschaftsmaschinen) sowie Reparaturarbeiten an Häusern und Hilfsarbeiten beim Hausbau. Dass er als Hilfsarbeiter eingesetzt wurde, lag in der Natur der Sache, es gab schlicht keinen Bedarf an gerade ausgelernten Chemielaboranten. Qualifizierte Gefangene wurde dementsprechend für qualifizierte Arbeiten eingesetzt, sofern der Bedarf da war.
Die Arbeitszeiten entsprachen denen der russischen Belegschaft der Betriebe und das waren in der Regel acht Stunden im Schichtbetrieb. In den Landwirtschaftsbetrieben konnten das - ohne Schichtarbeit - besonders in der Erntezeit auch zehn bis zwölf Stunden werden, was dann aber auch für die russischen Landarbeiter galt. Die Gefangenen wurden mit 50 bis 80 Rubel pro Monat entlohnt - wenn sie die Arbeitsnormen erfüllten. Die waren allerdings hin und wieder sehr willkürlich und nur schwer zu erfüllen, was die russischen Arbeiter aber ebenso betraf. Auch alle anderen Vergünstigungen wie die alljährliche Postkarte oder der ab und zu gewährte Ausgang waren von der Normerfüllung abhängig.

Die Behandlung der sowjetischen Kriegsgefangenen in deutscher Gefangenschaft war - analog zum Krieg gegen die Sowjetunion als Vernichtungskrieg - vom Ziel der Vernichtung geprägt.
"Die Gefangenen kampierten überwiegend unter desaströsesten Bedingungen im Freien. Hinzu kam eine absolut unzureichende Ernährung, schlechte Hygiene und kaum medizinische Versorgung, so dass viele an Krankheiten wie Ruhr- und Fleckfieberepidemien umkamen. Schon vor Kriegsbeginn hatte man im sogenannten Hungerplan den Hungertod so vieler sowjetischer Soldaten einkalkuliert. Das Lager Zeithain z. B. wird auch Sterbelager genannt, da die nicht mehr arbeitsfähigen Verwundeten oder Kranken in Lazaretten weiter unterversorgt waren. Sowjetische Kriegsgefangene wurden auch in deutschen Konzentrationslagern inhaftiert, etwa im KZ Sachsenhausen. Sie wurden auf zahlreiche Arten ermordet, wie z. B. mittels Genickschussanlage, Hängen, tödlicher Injektionen verschiedener Substanzen und Massenerschießungen (KZ Dachau, KZ Buchenwald). Menschenversuche mit sowjetischen Kriegsgefangenen sind für das KZ Neuengamme (Tuberkulose) und für das KZ Auschwitz (Vergiftungsversuch an 600 Gefangenen mit Zyklon B) belegt. [...] Die Zahl der sowjetischen Kriegsgefangenen, die von der Wehrmacht nach Juli 1941 als „politisch Untragbare“ zur Ermordung an die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD übergeben wurden, wird auf weit über 140.000 geschätzt"
[Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Kriegsgefangene...#Sowjetische_Soldaten_in_deutschem_Gewahrsam
Darstellungen zum Schicksal sowjetischer Kriegsgefangener in deutscher Gefangenschaft:
NS-Verbrechen an sowjetischen Kriegsgefangenen: https://www.dw.com/de/ns-verbrechen...
OKW-Anordnungen vom 08.09.1941: Behandlung sowjetischer Kriegsgefangener
Wiss. Dienste Deutscher Bundestag: Sowjetische Kriegsgefangene in Deutschland (PDF)
Dokumente des Nationalarchivs der Republik Belarus: Schicksal sowjetischer Kriegsgefangener (PDF)

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8.) Kleine Freiheiten
Auch die gab es hin und wieder, zum Beispiel Ausgang:

»Ich habe den Basar von Rjasan mehrmals besucht. [...] Wir erhielten jeden Monat achtzig Rubel und konnten uns in der Stadt etwas kaufen, oft war es Tabak, der recht billig war. Für fünf Rubel erhielt man 100 Gramm guten Krim-Tabak. [...] Einmal war ich in einem größeren Lebensmittelgeschäft, einem sogenannten Magazin. Dort wurde roter und schwarzer Kaviar verkauft. Es waren Eimer mit vielleicht 5 Kilogramm. Die Verkäuferin legte ein Stück Zeitung auf die Waage und portionierte mit einem Löffel den Kaviar auf dem Papier.«

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9.) Die größten Probleme
Die größten Schwierigkeiten ergaben sich aus den hygienischen Zuständen und dem Ungeziefer, das manchmal zu einer echten Plage wurde.

»In der Nacht konnte ich in der ersten Zeit kaum schlafen. In dem großen Saal war ein einziges Gestöhne und Jammern, manche sprachen im Schlaf mit ihrer Mutter, Frau oder ihren Kindern, andere schrien, fluchten oder knirschten mit den Zähnen im Schlaf. Der Raum war erfüllt mit einem Gestank nach Schweiß und anderen Körperausdünstungen, man konnte kaum atmen. Dazu kam die Peinigung durch die Wanzen, Flöhe und Läuse. Ich habe bis dahin noch nie und danach nie wieder so viele Wanzen gesehen. Wenn man nachts das Kochgeschirr offen ließ, das an der Kopfseite an einem Nagel hing, so war am Morgen der Boden mit Wanzen bedeckt, die nachts dort hineingefallen waren. [...] Im Sommer, wenn es draußen warm war, nahmen viele ihre Matratze und schliefen im Freien. Ich habe das auch versucht, es war zwar besser, aber in der Matratze waren genügend Quälgeister, die einem den Schlaf rauben konnten. Aber mit der Zeit habe ich mich - so wie alle anderen auch - an diese Verhältnisse gewöhnt.«

Aber auch hier gab es Ausnahmen - so im Stadtlager Rjasan.

»In regelmäßigen Abständen mussten wir alle in die zentrale Badeanstalt der Stadt. Dort wurde unsere Kleidung entlaust und wir konnten uns von oben bis unten waschen. Die gesamten Kleidungsstücke wurden etwa dreißig Minuten auf 100 Grad erhitzt. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass wir in diesem Lager Ungeziefer hatten, um es von vornherein zu bekämpfen, mussten wir im Sommer alle vier Wochen unsere Matratzen im Freien gründlich reinigen und lüften.«

Ein großes Problem für die Kriegsgefangenen war die als aussichtslos empfundene Situation, in der sie sich auf unabsehbare Zeit befanden. Keiner wusste, wie lange die Gefangenschaft dauern würde und keiner wusste für längere Zeit um das Befinden seiner Familie und die Situation in der Heimat. Es war in dieser Lage schwer, nicht den Lebensmut zu verlieren und den Willen und die Kraft zum Überleben zu finden. Nicht wenige Gefangene verließ der Lebensmut, mein Vater schreibt dazu:

»Oft sah man schon im Voraus, wenn es bei einem dem Ende zuging. Es waren meist die schon älteren Männer über 40. Sie hatten schon längere Zeit keinen Lebensmut mehr, sie tauschten ihr Brot bei den Nichtrauchern gegen Tabak und Zigaretten. Es gab für eine 600 Gramm-Brotration drei Zigaretten oder die entsprechende Menge Tabak. [...] Das Thema Sterben und nach Hause kommen war oft Gesprächsstoff. "Die lassen uns hier verrecken, nach Hause kommen wir nie" sagten die meisten. Ich war eigentlich immer der Meinung, dass wir eines Tages wieder nach Hause kommen würden. "Unsere einzige Aufgabe hier ist es, das zu überstehen und einigermaßen gesund zu bleiben. Dann werden wir auch irgendwann unsere Familien wiedersehen." Diesen Standpunkt vertrat ich immer und ich handelte danach. Während der fast vier Jahre der Gefangenschaft habe ich nicht ein einziges Mal mein Brot gegen Zigaretten getauscht.«

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10.) Das Verhalten der russischen Bevölkerung
Mein Vater erzählte, dass er - auch bei seinen zahlreichen dienstlichen Reisen in die Sowjetunion ab 1967 nach Moskau, Leningrad und Weliki Nowgorod - nie Verachtung oder gar Hass seitens der Russen erlebt hatte - mit einer Ausnahme. Im Frühsommer 1972 war mein Vater mit zwei seiner deutschen Kollegen und drei russischen Kollegen, begleitet von einer russischen Dolmetscherin, in Leningrad unterwegs, wenn ich mich recht erinnere, wollten sie in die Eremitage. Plötzlich stand eine ältere Dame vor ihnen, welche die Deutschen an der Sprache erkannt hatte und sie nun verfluchte und anspuckte. Die Dolmetscherin, selbst Russin, griff sofort ein und wies die mittlerweile weinende Dame mit strengen Worten zurecht, während die deutschen und die russischen Männer gleichermaßen betreten danebenstanden. Es stellte sich heraus, dass die alte Frau ihre beiden Söhne an der Front und ihren Mann während der Belagerung der Stadt verloren hatte und das nie verwinden konnte. Mein Vater und seine deutschen Kollegen baten sie um Vergebung und sie entschuldigte sich bei ihnen für diesen emotionalen Ausbruch. Nach seiner Rückkehr merkte selbst ich als 14-jähriger Pubertierender, dass meinen Vater diese Begegnung noch lange bewegte.

Als ich die Erinnerungen meines Vaters zum ersten Mal las, beeindruckten mich die folgenden Episoden besonders. Die erste schildert eine Situation, als mein Vater Aufräumarbeiten zu verrichten hatte.

»Ich hatte schon die ganze Zeit gesehen, wie mich eine ältere Frau vom gegenüber stehenden Haus durch ein Fenster beobachtete. Sie gab mir ein Zeichen, zu ihr zu kommen. Ich ging hin, sie öffnete die Tür und ich ging in die Stube. Sie gab mir ein Stück Brot und zwei sauer eingelegte, grüne Tomaten.«

Die zweite Episode beschriebt folgende Situation:

»Eines Tages, es war sehr kalt und es wehte ein heftiger Wind, mussten wir Schneezäune an der Bahnstrecke, die halb in der Schneewehe steckten, ausgraben und hochsetzen. Ich weiß nur, dass ich plötzlich umkippte und nichts mehr wahrnahm. In einem Bett kam ich zu mir, ich hatte meine Sachen noch an, lediglich die Schuhe waren ausgezogen. Am Bett saß eine Frau zwischen 50 und 60, sie trug ein Kopftuch, und massierte meine Füße mit Wodka. Zuerst war ich verwirrt und dachte, meine Mutter säße vor mir und alles bisher war nur ein böser Traum. Die Frau weinte und als sie merkte, dass ich wach war, musste ich ein Glas Wodka trinken. Mir war gleich schwindlig davon, aber der ganze Körper wurde sofort warm. Später erfuhr ich, dass mich meine Kameraden in das Haus getragen haben. Vor dem Heimmarsch holten sie mich wieder ab.«

Zur dritten Episode schreibt mein Vater:

»Vier von uns gingen zum Getreidespeicher, der Rest verrichtete innerhalb des Bahnhofgeländes andere Arbeiten. Wir vier wurden vom Natschalnik [...] des Getreidelagers abgeholt und zunächst zu seiner Wohnung gebracht. Dort setzten wir uns an den Tisch und erhielten Brot und Tee als Frühstück. Seine Frau bediente uns, es war eine freundliche, etwa vierzig Jahre alte Frau. Er war etwa fünfundvierzig und ebenfalls freundlich, ich kann mich nicht erinnern, von ihm oder ihr schlecht oder auch nur herablassend behandelt worden zu sein. Eigentlich ging er mit uns um wie mit ebenbürtigen Arbeitskräften. [...] Da das Getreidelager, in dem ich gearbeitet hatte, auf Pfählen über der Erde stand, konnte man darunter kriechen. Im Boden waren, wahrscheinlich von der russischen Bevölkerung gebohrt, an einigen Stellen mit Holzstopfen verschlossene Löcher. Wenn man sie öffnete, rieselte langsam das Getreide heraus. [...] Ich habe mich immer gefragt, warum niemand von uns erwischt wurde, obgleich das Getreide von uns am Tage geklaut wurde. Der Natschalnik des Getreidelagers hätte das doch mitbekommen müssen, es wäre für ihn eine Kleinigkeit gewesen, sich auf die Lauer zu legen und dort wurde jeden Tag Getreide gestohlen. Ich glaube im Nachhinein, dass er einfach zu gutmütig war und niemand ins Verderben schicken wollte.«

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11.) Typisch russisch? Kuriositäten des Wachregimes
Das Wachregime war in den Lagern, in denen mein Vater seine Gefangenschaft verbrachte, nicht unbedingt streng, sondern entsprach eher den Klischees vom gemütlichen Russen. Das Lager Rjasan hatte auf jeder Ecke einen Wachturm, eines Morgens erlebten die Kriegsgefangenen eine Überraschung. Mein Vater schreibt:

»Ein Wachturm war verschwunden. Die vier Holzstämme, die ihn trugen, waren kurz über der Erde abgesägt. Offensichtlich wurde er von russischen Zivilisten gestohlen und zu Brennholz verarbeitet. Es war ja ein kalter Winter. Mich wunderte damals nur, dass unser russischer Lagerkommandant so tat, als hätte er es nicht bemerkt. Es gab keinerlei Reaktion.«

Fortan hatte das Lager Rjasan nur drei Wachtürme. Die Arbeitskommandos in den Sowchosen und Betrieben wurden wurden von Zivilisten aus der Belegschaft der Betriebe im Lager abgeholt und bewacht - mein Vater hatte schnell so viel Russisch gelernt, dass er die Russen recht gut verstehen und sich verständlich machen konnte, schließlich war für ihn nicht abzusehen, wie lange er in der Sowjetunion bleiben müsste.

»Das waren ein älterer Mann, um die sechzig Jahre alt, und ein junger Bursche, vielleicht achtzehn bis zwanzig Jahre. Sie mussten eine Waffe haben, der junge Bursche hatte einen alten, deutschen Karabiner 98, der ältere Mann eine Schrotflinte. [...] Die russischen Zivilisten, die uns bewachen sollten, verschwanden meist an der nächsten Straßenecke, sobald man uns vom Lager aus nicht mehr sehen konnten. Sie holten uns erst mittags beziehungsweise abends wieder ab. Ich wunderte mich, dass der junge Russe immer seine Hand auf dem Schloss des Karabiners hatte, das war eigentlich sehr unbequem für ihn, bis ich dann eines Tages sah, dass am Schloss der Verschlussriegel fehlte. Ein lustiges Erlebnis hatten wir mit dem älteren Russen. Als er wieder eines Tages ein Arbeitskommando abholte, rief ihn der russische Leutnant in das Wachhäuschen, es war eigentlich nur eine kleine Bretterbude. Die Tür stand offen und ich hörte, wie der Leutnant ihn fragte:
"Funktioniert dein Gewehr überhaupt?"
"Aber sicher."
"Hast du überhaupt Munition?"
"Ja, im Gewehr."

Der Leutnant öffnete das Gewehr und sagte:
"Die ist doch schon abgeschossen, das Zündhütchen ist schon angeschlagen!"
Er schloss das Gewehr, hielt den Lauf in Richtung Decke und drückte ab. Nichts passierte, er drückte wieder ab, wieder nichts. Beim dritten Mal gab es einen furchtbaren Knall und als der Rauch sich verzogen hatte, sah man ein rundes Loch im Dach des Wachhäuschens. Ich hörte noch, wie der alte Mann sagte:
"Siehst du, funktioniert doch."«

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12.) Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft
Mitte April 1949 war es soweit - meiner Vaters Kriegsgefangenschaft endete:

»Eines Tages, es muss so um den 16. April gewesen sein, wurden Namenslisten ausgelegt. Man musste nun suchen, ob man dabei war. Ich konnte es kaum fassen [...] da stand deutlich: »Rudi Wilhelm Kupfer, Burgkemnitz, 27«. Der Vor- und Vatersname, wie es in Russland üblich ist, der Familienname, Wohnort und Geburtsjahr. Bereits am nächsten Tag mussten wir auf der Liste Stehenden im Hof antreten, am Tor standen russische Offiziere, sie riefen den Familiennamen auf und man musste vortreten und den Vor- und Vaternamen, den Wohnort und das Geburtsjahr sagen. Wenn das mit der Liste übereinstimmte, durfte man durch das Tor gehen und draußen erneut antreten.«

Die Reise ging über ein Entlassungslager in Frankfurt/Oder nach Berlin und schließlich nach Muldenstein, seit 2010 Gemeinde Muldestausee, dem Wohnort seiner Familie - seine mittlerweile 97-jährige Schwester lebt heute noch dort. Am Sonnabend, den 23. April 1949, kam er gegen Mittag zu Hause an. Die ersten drei Werktage vom 25. bis zum 27. April verbrachte er mit Behördengängen, er hatte sich an verschiedenen Stellen zu melden, mit der Beantragung und Abholung der Bezugsscheine für Essen und Kleidung und der Abholung der entsprechenden Sachen. Am Donnerstag, den 28. April, fuhr er morgens mit dem Fahrrad nach nach Bitterfeld, um seine alte Arbeit im Bitterfelder Betrieb der ehemaligen I.G. Farbenindustrie AG, die nun Elektrochemisches Kombinat Bitterfeld in der Sowjetische Aktiengesellschaft Kaustik hieß (später VEB Chemiekombinat Bitterfeld, heute Chemiepark Bitterfeld-Wolfen) wieder aufzunehmen - am vierten Werktag nach seiner Heimkehr!

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13.) Fazit
Es befanden sich etwa 3,4 Millionen - die Angaben schwanken zwischen 3,2 und 3,6 Millionen - deutsche Soldaten in sowjetischer Kriegsgefangenschaft, von denen 1,1 Millionen in der Gefangenschaft verstarben, das sind 32,5%. In deutscher Kriegsgefangenschaft befanden sich etwa 5,5 Millionen - auch das ein Mittelwert der verschiedenen Angaben - Soldaten der Roten Armee, von denen 3,3 Millionen während der Gefangenschaft verstarben, das sind 60%.
Es ist sicher nicht zulässig, die hier geschilderten Umstände zu pauschalisieren, denn es sind nicht die Erlebnisse deutscher Kriegsgefangener in toto, sondern lediglich die meines Vaters und seiner Kameraden. Zu beachten ist bei den Schilderungen der offensichtliche Glücksfall, dass mein Vater seine Kriegsgefangenschaft in Lagern nahe Moskau verbrachte, denn es ist davon auszugehen, dass die Versorgungslage nahe der Hauptstadt besser war, als das in den Weiten Sibiriens zwischen Ob und Olomon der Fall war. Es gab grausame Lager wie das nördlich des Polarkreises gelegene Workuta, aber auch hier gilt, dass unter den unmenschlichen Zuständen die dort gefangenen Russen genauso litten wie die deutschen Gefangenen, am 1. Juni 1941 waren schon vor der Ankunft der ersten deutschen Kriegsgefangenen 28.000 russländische Menschen - es waren ja nicht nur Russen - in Workuta interniert. Nicht vergessen werden sollte dabei die Tatsache, dass von den Wachmannschaften eine Stationierung in einem Lager nördlich des Polarkreises oder in den Weiten Sibiriens ebenfalls als Strafe empfunden wurde, für etliche, insbesondere Offiziere, war es das in der Tat auch - entsprechend war die Verfassung der Wachmannschaft. Das von meinem Vater geschilderte, kommod-nachlässige Laissez-faire war von denen nicht zu erwarten. Aber es ist ebenso unzulässig, die schlimmen Erfahrungen Kriegsgefangener in anderen Lagern zu verallgemeinern, zumal das in der Regel wegen der bewussten oder unbewussten Verwischung der Kausalität geschieht und die sah so aus:

»Im Arbeitskommando war ein Offizier der Panzertruppen von uns. Als wir von der Kaserne wieder in die Stadt fuhren, kamen wir an eine Brücke, die über einen Fluss führte. Vor uns sahen wir Rjasan liegen. Da sagte er zu mir: "Hier vor dieser Brücke habe ich im Winter 1941 mit meinem Panzer gestanden."«

Die Aufrechnung der deutschen Opfer des Krieges gegen die der Sowjetunion ist nicht nur völlig nutzlos, sondern auch schlicht idiotisch - keiner der Toten, weder die russländischen noch die deutschen, hat es verdient, dass heute ihr Schicksal von irgendwelchen Schwachköpfen missbraucht braucht wird, um in revisionistischen Hirngespinsten zu schwelgen. Vielmehr sollten sich die Deutschen, insbesondere die Politiker dieses Landes, endlich ihrer historischen Verantwortung bewusst werden - und das nicht aus einem meist geheuchelten Schuldgefühl heraus, sondern aus dem Wissen um die engen historischen und kulturellen Verbindungen zwischen Deutschland und Russland und aus der Erkenntnis, dass dieser verfluchte Krieg ein von Deutschland als Vernichtungskrieg begonnener Bruderkrieg war.

Oft kommt eine solche Aufrechnung in Begleitung der nicht minder idiotischen Behauptung vom "Präventivkrieg" des Deutschen Reiches, um einen angeblich kurz vor der Umsetzung gestandenen Angriffskrieg der UdSSR zuvorzukommen. In die Welt gesetzt hat diese Behauptung - von den Nazis selbst abgesehen - der geflüchtete Landesverräter Wladimir Resun, der sich im Juni 1978 nach Großbritannien absetzte und dort seitdem unter dem Pseudonym Viktor Suworow seinen revisionistischen Unsinn veröffentlicht. Seine Behauptungen vom deutschen "Präventivkrieg" wurden von seriösen Historikern längst widerlegt und Resun wurde der Zitatenfälschung überführt. Der naheliegendste Grund für die Idiotie von Resuns Behauptungen ist, dass Stalin mit den "Säuberungen" selbst für die Unmöglichkeit eines Angriffskriegs gegen Deutschland gesorgt hatte. Der Höhepunkt der "Säuberungen", die von Ende der 1920er bis Anfang der 1950er Jahre, also von Stalins Machtübernahme bis zu seinem Tod) andauerten, waren von 1936 bis 1938 die Jahre des Большой террор, in Russland auch "Ежовщина" genannt (Jeschowina, nach Nikolai Jeschow, der als Chef des NKWD für die Umsetzung des Großen Terrors verantwortlich war). In diesen zwei Jahren verlor die Rote Armee drei von fünf Marschällen, 13 von 15 Armeekommandeuren, 57 von 85 Korpskommandeuren und 110 von 195 Divisionskommandeuren oder, anders formuliert, neun von zehn Generälen und acht von zehn Obersten, die meisten von ihnen mit Kriegs- beziehungsweise Bürgerkriegserfahrung. Die nachrückenden Kommandeure verdankten ihre Beförderung hauptsächlich fester Linientreue und selten militärischem Sachverstand. Die "Säuberungen" betrafen auch zahlreiche Wissenschaftler und Ingenieure, so saßen bei Kriegsbeginn der berühmte Flugzeugkonstrukteur Andrei Nikolajewitsch Tupolew und der nicht minder berühmte Konstrukteur der ersten Interkontinentalrakete der Welt Sergei Pawlowitsch Koroljow in Gulags. Entsprechend planlos und desorganisiert standen Stalin und die Rote Armee bei Kriegsbeginn Hitlers erprobter Kriegsmaschinerie gegenüber.

Nach dem Rücktritt des Fürsten von Bismarck (Drei-Kaiser-Abkommen 1873, Drei-Kaiser-Bündnis 1881) am 18. März 1890 gab es kaum einen deutschen Politiker, der eine vernünftige, konsensorientierte Politik im Verhältnis zu Russland gewollt, geschweige denn realisiert hätte. Mir fallen auf Anhieb nur Walter Rathenau (Vertrag von Rapallo 1922), teilweise auch Willy Brandt und Egon Bahr ein. Heute sind da выпердыши wie Maas, Kramp-Karrenbauer und die feine Frau von der Leyen am Werk, die heute noch bei Sinnen seienden wie Horst Teltschik sind in den Zirkeln der Macht oder wie Gabriele Krone-Schmalz in den öffentlich-rechtlichen Medien abgemeldet.

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