8. September - vor 80 Jahren begann die Leningrader Blockade

Heute vor 80 Jahren, am 8. September 1941, begann die блокада Ленинграда, die Leningrader Blockade, die das größte Kriegsverbrechen der Menschheitsgeschichte wurde. [*] Sie endete erst am 27. Januar 1944 und in diesen entsetzlichen 871 Tagen fielen über 1.100.000 Leningrader Zivilisten der Belagerung der Stadt zum Opfer, von denen die meisten verhungerten.

Die Blockade Leningrads durch die Wehrmacht hatte das explizit formulierte Ziel, die Leningrader Bevölkerung systematisch verhungern zu lassen und dann die leere Stadt in Beschlag zu nehmen. Ein Artikel bei RBTH mit Gemälden aus der Zeit der Blockade:
https://de.rbth.com/geschichte/85308-leningrader-belagerung-gemaelde
Besonders ergreifend sind die Notizen des damals zehn- bzw. elfjährigen Mädchens Tatjana Nikolajewna Sawitschewa, in denen sie festhielt, wie ihre Familie starb.

Женя умерла 28 дек. в 12 час утра 1941 г.
(Schenja starb am 28. Dezember um 12 Uhr vormittags 1941)

Бабушка умерла 25 янв в 3 ч. дня 1942 г.
(Oma starb am 25. Januar, 3 Uhr nachmittags 1942)

Лека умер 17 марти в 5 час утр. 1942 г.
(Ljoka starb am 17. März um 5 Uhr vormittags 1942)

Дядя Вася умер 13 апр 2 ч. ночи в 1942 г.
(Onkel Wasja starb am 13. April um 2 Uhr nach Mitternacht 1942)

Дядя Леша 10 мая в 4 ч. дня 1942 г.
(Onkel Ljoscha am 10. Mai um 4 Uhr nachmittags 1942)

Мама в 13 мая в 7:30 час утра 1942 г
(Mutter am 13. Mai um 7:30 Uhr vormittags 1942)

Савичевы умерли
(Die Sawitschews sind gestorben)

Умерли все
(Alle sind gestorben)

Осталась одна Таня.
(Nur Tanja ist übriggeblieben.)

Tagebuch des Leningrader Mädchens Tatjana Sawitschewa

Das untere Bild zeigt den Траурный курган "Дневник Тани Савичевой" (Trauerhügel "Tagebuch von Tanja Sawitschewa") im Мемориал "Цветок жизни" (Gedenkstätte "Blume des Lebens"). Die Gedenkstätte erinnert an die Kinder, die der Blockade Leningrads zum Opfer fielen, hier die Lage der Gedenkstätte bei Google Maps und bei Yandex Maps und hier ein Artikel über die Gedenkstätte auf der Webseite der Präsidentenbibliothek Boris Jelzin:
https://www.prlib.ru/item/343314
Tatjana (Tanja) wurde im August 1942 zusammen mit 140 Kindern über den Ladogasee in die Nähe von Gorki, heute wieder Nischni Nowgorod, evakuiert, wo sie am 1. Juli 1944 an den Spätfolgen der Hungerzeit in Leningrad in Verbindung mit schwerer körperlicher Arbeit - sie arbeitete beim Ausbau der Verteidigungsanlagen mit und hob Schützen- und Splittergräben aus - als halbverhungerte Elfjährige! Das Mädchen litt an progressiver Dystrophie, Skorbut sowie Knochen- und Darmtuberkulose, letztere wurde als Todesursachen angegeben. Tatjana im deutschen Wikipedia:
https://de.wikipedia.org/wiki/Tatjana_Nikolajewna_Sawitschewa

Im Frühsommer 1972 war mein Vater mit zwei seiner deutschen Kollegen und drei russischen Kollegen, begleitet von einer russischen Dolmetscherin, in Leningrad unterwegs, wenn ich mich recht erinnere, wollten sie in die Eremitage. Plötzlich stand eine ältere Dame vor ihnen, welche die Deutschen an der Sprache erkannt hatte und sie nun verfluchte und anspuckte. Die Dolmetscherin, selbst Russin, griff sofort ein und wies die mittlerweile weinende Dame mit strengen Worten zurecht, während die deutschen und die russischen Männer gleichermaßen betreten danebenstanden. Es stellte sich heraus, dass die alte Frau ihre beiden Söhne an der Front und ihren Mann während der Belagerung der Stadt verloren hatte und das nie verwinden konnte. Mein Vater und seine deutschen Kollegen baten sie um Vergebung und die Frau entschuldigte sich bei ihnen für diesen emotionalen Ausbruch. Nach seiner Rückkehr merkte selbst ich als 14-jähriger Pubertierender, dass meinen Vater diese Begegnung noch lange bewegte.

BTW - den Leit- und Qualitätsmedien war der Tag bis auf eine Ausnahme keine besondere Aufmerksamkeit wert, die Süddeutsche Zeitung fand auf ihrem "Kalenderblatt" ganze 25 Worte, ansonsten habe ich nichts zu diesem Tag gefunden. Die Ausnahme ist SPON:
https://www.spiegel.de/geschichte/1941-beginn-der-blockade-von-leningrad-872-tage-hunger...

[*] Oft wird der Holocaust den deutschen Kriegsverbrechen zugerechnet, das ist aber formal nicht korrekt. Der für dieses Verbrechen im Londoner Statut zu den Nürnberger Prozessen erstmals völkervertraglich und -rechtlich festgelegte Begriff lautet "Verbrechen gegen die Menschheit". Hierzulande wird er häufig "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" genannt, wobei man sich darauf beruft, dass das Wort "humanity" in der englischen Bezeichnung "Crimes against humanity" sowohl "Menschheit" als eben auch "Menschlichkeit" bedeuteten kann. Aber auch das ist nicht korrekt und das wird deutlich, wenn man den russischen Titel betrachtet - "Преступления против человечества". Das Wort "человечества" heißt "Menschheit", "Menschlichkeit" heißt im Russischen "человечность". Das Londoner Statut als Statut des Internationalen Militärgerichtshofs war ein Annex des Londoner Viermächte-Abkommen der Vertreter der Hauptalliierten des Zweiten Weltkrieges, weswegen die russische Bezeichnung ebenso verbindlich ist wie die englische, aber die Intention der Benennung des Straftatbestandes eindeutig im Begriff beschreibt. Hier eine ausführlichere Erörterung dieses Themas:
https://www.facebook.com/call4will/posts/5030928120254828