Warum ich mich für Russland engagiere - eine Erklärung in eigener Sache

Mir fiel jüngst auf, dass mein intensives Interesse an und mein hin und wieder lautstarkes Engagement für Russland bei Menschen, die mich kennen, für Irritationen sorgte, die sich in etwa in der Frage zusammenfassen lassen, ob ich nun völlig völlig durchgeknallt wäre. Nein, bin ich nicht, ich bin noch genauso irre, wie ich schon immer war. Allerdings spielt eine meiner, nun ja, Eigenheiten durchaus eine gewisse Rolle, nämlich Dinge entweder gar nicht zu tun - oder eben konsequent bis zum Ende, egal, wie das aussehen könnte. Somit bleibt die Frage, warum mir Russland mittlerweile so wichtig ist, dass ich mich in dieser Art exponiere.

Das ist natürlich, dessen bin ich mir durchaus bewusst, ein gutes Stück Projektion, und zwar nicht diese Art von Projektion, welche die Leute auf irgendeinem Polit-Ringelpietz mit Russlandflaggen herumlungern lässt in der Hoffnung, Putin würde sie erhören und erlösen von Merkel und dem, was Diversitätspolitik genannt wird. Erstere ist mir gleichgültig und für Letzteres habe ich nur mehr oder weniger milden Spott übrig.

Nein, meine Projektion bezieht sich auf die Tatsache, dass Deutschland 1933 seine Seele verlor und sie seitdem nicht wiederfand (und sie nach meiner nunmehrigen Überzeugung nie wiederfinden wird). Russland hingegen hat seine Seele über ein Jahrtausend wechselhafter und phasenweise extrem leidvoller Geschichte nicht nur behalten, sondern ließ sie immer stärker werden. Das und die daraus resultierenden kulturellen Phänomene sind es, neben der riesigen Fläche, was Russland in meinen Augen exzeptionell sein lässt. Der Topos "Seele" klingt natürlich arg pathetisch, was dahintersteht, lässt sich aber kaum besser ausdrücken, nämlich im Sinne eines immateriellen Prinzips als Träger des Lebens eines Individuums, einer Gruppe, einer Nation und ihrer durch die Zeit hindurch beständigen Identität (nach Wikipedia) oder, wenn man so will, als Descartes' res cogitans (ausdehnungslos denkende Seele) in Abgrenzung zu ihrem Pendant res extensa (durch räumliche Ausdehnung definierte Materie). Dabei meint der Begriff "Identität" keine ethnisch und/oder kulturell fest umrissene oder gar homogene Gruppe oder geografische Region, wie die russische Identität mit 185 Ethnien - davon etwa 50 zahlenmäßig große - und ihren Kulturen beispielhaft wie keine andere zeigt.

Braucht man so ein ideelles Konstrukt? Ich weiß nicht, was andere brauchen - ich habe es immer vermisst, und zwar lange Zeit ohne benennen zu können, was mir da eigentlich fehlte. Das war auch in der DDR so, gleichwohl die Genossen der Partei- und Staatsführung sich redlich bemühten, ein Heimatgefühl unter, nun ja, sozialistischem Vorzeichen zu (re)etablieren, dieses Beispiel kann wohl jede und jeder mitsingen, die oder der in dem seltsamen, kleinen Land lebte - "Unsere Heimat".

Was Deutschland diesbezüglich, also seine - meinem Empfinden nach - verlorene Seele angeht - freilich kann man hierzulande ausgesprochen komfortabel leben, so kommod wie in nur wenigen Ländern der Erde und selbst als ALG-II-, vulgo Hartz-4-Empfänger lebt man hier besser als der signifikant größere Teil der Menschheit. Das war - entgegen den heute opportunen, anderslautenden Darstellungen - auch in der DDR so, freilich auf niedrigerem Niveau, aber die DDR war - weit vor der Sowjetunion - die bequemste Baracke im Ostblock (und Ungarn war die lustigste).

Der Zivilisationsbruch mit der Machtübergabe an die Nationalsozialisten war in der Folge auch ein Kulturbruch und die Seele einer Nation manifestiert sich in erster Linie in ihrer Kultur. Deutschland fand zwar in die Zivilisation zurück, der Kulturbruch war aber - nicht zuletzt durch die Ermordung und Vertreibung zahlreicher Künstlerinnen und Künstler - offensichtlich nicht zu kitten und wurde seinerzeit durch materielle und heute durch konsumistische und hedonistische "Werte" kompensiert, die aber - weil nur bedingt, temporär und allenfalls in Interessengruppen identitätsstiftend - keine wirklichen Werte sind, auch wenn sie das Leben hierzulande kommod sein lassen. Das Russische Reich hatte zwar mit dem Roten Terror, den Stalinschen "Säuberungen", der Jeschowschtschina und den Massakern an polnischen Staatsbürgern auch seinen Zivilisationsbruch, der hatte aber keinen Kulturbruch zur Folge resp. im Gefolge. Der Grund dafür ist, dass zwar Teile der russischen Kultur in politischem Sinn als subversiv oder gar feindlich betrachtet wurden und ihre Schöpfer und Verbreiter verfolgt und teilweise - wie den herausragenden Dichter Ossip Emiljewitsch Mandelstam, den für seine authentischen Zeugnisse aus der Zeit des Bürgerkrieges berühmten Schriftsteller Isaak Emmanuilowitsch Babel und Wsewolod Emiljewitsch Meyerhold, der einer der bedeutendsten Theaterregisseure des 20. Jahrhunderts war - ermordet wurden. In Deutschland hingegen wurde versucht, eine ganze Kultur wegen angeblicher "rassischer Minderwertigkeit" aus einem eliminatorischen Antisemitismus (Hannah Arendt) heraus und die politisch missliebige Kultur samt ihrer Träger und Schöpfer radikal zu vernichten. Die russische Kultur - und damit die russische Seele - überstand den Terror und brachte unter ihm neue Richtungen hervor, in der Musik beispielsweise das russische Chanson, das in in der Zeit des Roten Terrors und in der nachfolgenden Periode der Neuen Ökonomischen Politik (НЭП) entstand und nur dem Namen nach mit dem französischen oder deutschen Chanson zu tun hat.

Аркона - Славься, Русь! | Arkona - Ruhm dir, Rus!

Снова, сердцем замирая,
Слово молвила, чуть дыша:
Славься, Матушка родная!
Славься, Русская душа!
Через дебри вековые,
Сквозь далекие края,
Молвим, братия родные:
Славься, Русь, Земля моя!
Und wieder, das Herz stockend,
flüsterte ich diese Worte, kaum atmend:
Ruhm dir, Mütterchen des Volkes!
Ruhm dir, russische Seele!
Durch Jahrhunderte währende Wirrnisse,
durch ferne Länder,
Wir, die Volksgemeinschaft, sagen es laut:
Ruhm dir, Rus, mein Land!

Hinweis zur Werbung in YouTube-Videos und zum Datenschutz

Die Geschichte des Russischen Reiches beschäftigt mich, seit ich denken kann, und zwar mehr als jede andere nationale Historie einschließlich der deutschen. Da war zudem die russische Literatur im elterlichen Haushalt (Simonow, Scholochow, Tolstoi, Puschkin, Dostojewski, Bulgakow) und in der Schule (Ostrowski, Gaidar, Aitmatow, Majakowski, Fadejew), ich habe von deren Werken, die ich gelesen habe, zumindest die Rahmenhandlung und die Darstellung des Protagonisten bis heute in Erinnerung. Werke, die mich besonders beeindruckten wie Isaak Babels Erzählungen in "Budjonnys Reiterarmee" oder Wladimir Majakowskis Poem "Gut und schön", kann ich teilweise zitieren. Werke anglosphärischer Autoren, die ich damals las, wie Mark Twain, Harriet Beecher Stowe, Jack London, Robert Louis Stevenson und Charles Dickens sind mir komplett entfallen, was im Fall von Beecher Stowe heute ganz praktisch ist, weil es opportun zu sein scheint, wenigstens ihr "Uncle Tom’s Cabin" schleunigst zu vergessen. Ausnahmen sind Lewis Carroll und John le Carré, aber die habe ich erst viel später gelesen.

Neben diesem Aspekt, der unter den Topos "Sozialisierung" fällt, hatte ich mit dem Tod meines Vaters zwei Schlüsselerlebnisse. Das erste war anlässlich meines letzten Besuchs bei meinem Vater, als er in Zwickau auf der Palliativstation lag und ich ihn zum letzten Mal sehen konnte. Er war von den Schmerzmittel benommen, hatte aber zwischendurch sporadisch lichte Momente. In einem dieser Momente sah er uns, meinen Bruder und mich, an und sagte mit schwacher Stimme "All die jungen Männer, warum mussten all die jungen Männer sterben?" Wir waren zunächst fast überfordert, ergriffen dann seine Hand und sagten ihm, dass er in seinem Leben so viel Gutes für andere getan hat (was stimmt), dass der Herr ihm vergeben wird, was auch immer da im Krieg gewesen sein mag. Seinen dankbaren Blick werde ich nie vergessen. Mein Vater wurde Ende August 1944 mit 17 Jahren einberufen und als Schütze 1 (von 6) am MG 42 ausgebildet, eine fürchterlich effizienten Waffe, die von den deutschen Landsern "Hitlersense" genannt wurde (wegen der besonderen, sensenartigen Feuerführung), die US-Soldaten nannten sie "Hitler's Buzzsaw" (wegen der extrem hohen Schusskadenz von 1.200 bis 1.500 Schuss pro Minute, die das MG aus der Ferne wie eine Kreissäge klingen ließ). Am 26.01.1945 wurde sein Regiment an die Ostfront mitten in die Weichsel-Oder-Operation der Roten Armee verlegt und am 10.05.1945 endete für ihn der Krieg mit dem Beginn der sowjetischen Gefangenschaft.

Das zweite Schlüsselerlebnis hatte ich im selben Kontext, als ich nach seinem Tod am 26.05.2011 die nachgelassenen Lebenserinnerungen meines Vaters zu lektorieren begann, er hatte mir mit einem saloppen "Mach damit, was du willst, es interessiert eh keinen" die Veröffentlichung erlaubt. Dort las ich folgenden Absatz:

»Plötzlich hörte ich Schritte, ich blickte zur Treppe - jemand kam langsam die Treppe herab. Ich sah zuerst nur die Beine mit den Stiefeln, es waren russische Stiefel, dann sah ich an der Uniformhose, dass es tatsächlich ein Russe war. Das alles spielte sich wie in der Zeitlupe ab. Ich war wie gelähmt, unfähig mich zu bewegen, ich weiß nicht, ob mein Herz überhaupt noch schlug. Jetzt sah mich der Russe, er hatte keine Maschinenpistole und kein Gewehr bei sich, ich glaube, er hatte nicht einmal eine Pistole. Als er mich sah, war er genauso erschrocken wie ich, er blieb erstarrt stehen, es waren bestimmt nur drei, vier Sekunden. Er starrte mich an, ich rührte mich nicht. Er stieg langsam rückwärts Schritt für Schritt die Stufen hoch und verschwand wie ein Geist. Ich hätte mich schnellstens in den anderen Raum in Sicherheit bringen sollen, denn eigentlich hätte jetzt kommen müssen, was wir an seiner Stelle getan hätten, nämlich ein oder zwei Handgranaten in den Keller geworfen. Aber er tat nichts. [...] Dieses Erlebnis werde ich nie vergessen, der Russe war sicher genauso erlöst wie ich, als alles vorbei war. Er war wahrscheinlich allein und suchte, genauso hungrig wie wir, nach Essen und mir dämmerte durch den Schleier jahrelanger Indoktrination durch die nationalsozialistische Propaganda, dass der Russe auf der Treppe ebenso ein Junge mit einem Zuhause, Eltern, Geschwistern wie ich war.«

Mein Vater bereute seinen Kriegseinsatz sein ganzes Leben lang, und zwar nicht, weil er selbst gelitten hatte - darüber hatte er sich nie beklagt -, sondern weil er sich hatte verblenden und verführen lassen. Der Krieg und die Toten in seiner Verantwortung haben ihn bis aufs Totenbett verfolgt. Also wenn das keine Legacy, kein Vermächtnis im Sinne eines weiterzuführenden Auftrages ist, dann weiß ich nicht, was eines sein könnte oder sollte.